Sie lesen den Anfang meiner Kurzgeschichte "Kellergewölbe", enthalten in der zweiten Ausgabe der Anthologiereihe Welt der Geschichten.




Es war ein Ding in ihrem Keller. Max wusste das. Er hatte es nämlich schon gesehen. Es zeigte sich jedoch nur ihm und nur dann wenn es dunkel war. Vor Licht und großen Menschen schien es Angst zu haben. Max befand sich also die meiste Zeit in einer trügerischen Sicherheit, da schließlich immer mindestens Mama daheim war, auch wenn Papa zur Arbeit gefahren war. Doch Max wusste, dass er sich darauf nicht verlassen konnte. Das Ding machte nämlich Jagd auf ihn.
Das Verlangen nach seinem Kinderfleisch hatte Max schon gespürt, als sie gerade in dem Haus eingezogen waren und sie den ausladenden Weinkeller zum ersten Mal inspizierten, den der Vorbesitzer sich angelegt hatte. Der Mann hatte natürlich seine edlen Tropfen mit sich genommen, doch die sperrigen Halterungen, in denen die Flaschen gelagert worden waren, waren hier geblieben und zerteilten den großen Raum in mehrere Gänge. Nur ein schwummeriges Licht erhellte spärlich den Eingangsbereich und verlor sich schon nach nur wenigen Schritten, sodass man Mühe hatte, die gegenüberliegende Wand zu sehen.
Papa hatte die Gestelle für die Weinflaschen genauer inspiziert, während sich Max tiefer in das Halbdunkel des hinteren Kellerraumes gewagt hatte. Rasch verlor sich das Licht vor seinen Füßen, als traue es sich nicht, mit ihm Schritt zu halten. Bewundernd sah er sich die vielen leeren röhrenförmigen Hülsen in den Halterungen an und versuchte sich vorzustellen, wie in jeder eine uralte Flasche Wein auf die Zeit ihres öffnens wartete. Obwohl er Wein nie getrunken hatte, fand er das Bild beeindruckend, dass ihm der Mund ein Stückchen aufklappte: es mussten hunderte von Weinen gewesen sein, die der Mann, der vor ihnen hier gewohnt hatte, aufbewahrt haben musste, liebevoll in den Gestellen aufgereiht, wie Max seine Modellautos in seinem Zimmer stehen hatte. Von der Vorstellung getragen, schlenderte er in einen von zwei der leeren Weinregale gebildeten Gang, weiter von dem Eingang und damit von dem über diesem schwächlich gegen die Finsternis anfunkelnden Licht fort. Vorsichtig ließ er sein Händchen über die hölzernen Konstruktionen gleiten und zog sie schnell wieder zurück, als er merkte, wie staubig und feucht sie waren.
Auf einmal hatte Max- noch ganz in die Welt seiner Vorstellung versunken- in ein paar katzenhaft grüner, geschlitzter Augen gestarrt, die in Augenhöhe durch eine der hülsenförmigen Halterung von der anderen Regalseite zu ihm hinüber blitzten. Er war zusammengezuckt, ein eiskalter Schreck war ihm in alle Glieder gefahren, betäubte ihn und er konnte keinen Muskel rühren. Selbst seine Gedanken waren von den hypnotisch in der Schwärze funkelnden Augen wie eingefroren und wollten nicht in der gewohnten Geschwindigkeit fließen, als hätte jemand ihm eine zähe Masse in den Schädel gekippt. Da war das Wesen plötzlich von der anderen Seite blitzartig nach vorne geschnellt; Max konnte nach wie vor lediglich seine irisierenden Augen sehen, doch urplötzlich fühlte er sich von einer harten Hand gepackt und nach vorne gegen das Regalteil geschmettert. Ein wilder Geruch stieg ihm in die Nase, der ihn an gefährliche Tiere im Zoo erinnerte und ein kehliges Fauchen drang scharf wie ein Messer in sein Ohr und brachte mehr jenes muffigen Gestanks mit sich.
Es ist der Böse Wolf!, schnitt ein Gedanke durch seinen Verstand und löste jene Fesseln, die die Angst ihm auferlegt hatten und er begann hektisch an dem im Dunkeln unsichtbaren Arm zu zerren, der ihn gepackt hielt. Am Rande seines Bewusstseins hatte Max gemerkt, dass der Arm des Bösen Wolfes gar nicht mit Fell bedeckt gewesen war, sondern eine merkwürdig feuchte, pockennarbige Oberfläche hatte, fast wie ein toter Fisch mit Pusteln. Er wird mich fressen, wenn er kann!, schoss es in seinen Kopf, als ihm weitere Fetzen des alten Märchens in den Kopf gestiegen waren, während er sich weiter gegen den Zug des Tieres gewehrt hatte. Doch das Ding war viel zu stark gewesen, als dass es sich von seinen Schlägen beeindrucken ließ und riss ihn mit einem harten Ruck bis ganz an die Holzkonstruktion heran, die zwischen ihnen stand. Verängstigt wimmernd hielt Max aus, dem ein derart dicker Kloß den Hals versperrte, dass er nicht mehr als ein dünnes Krächzen herausbekam, als er seinen lediglich wenige Schritte entfernten Papa hatte rufen wollen. Doch Papa war durch den Krach auf Max aufmerksam geworden.
"Sei bitte vorsichtig, nicht, dass du eines von den Regalen umwirfst", hatte er in einem abwesenden Ton gesagt, als er sich das Holz eines vorderen Regals in dem verschwindend geringen Licht begutachtete. Max versuchte verzweifelt ihm etwas zuzuschreien, dass der Böse Wolf oder der Schwarze Mann oder was auch immer ihn gepackt hatte und ihn nun holen wollte, doch er brachte aus seiner von Panik zugeschnürten Kehle kaum mehr als ein leises Keuchen hervor. Indes hatte er mit bebendem Herzen ertragen müssen, wie sich langsam etwas durch eine der Röhren gezwängt und ihn bedächtig beschnüffelt hatte, als hätte das Ding überlegt, ob es sich an ihm den Magen verderben würde oder ob er schmackhaft war.
"Und fass' mir bitte nichts an, was du findest. Hier könnte Rattengift ausgestreut sein. Ach, am besten gehen wir wieder hoch und kommen nocheinmal mit einer vernünftigen Lampe her. Mit der Funzel kann man ja kaum seine Hand vor Augen erkennen, was Max?" Als keine Antwort kam, richtete sich Max' Papa auf. "Max? Max, ist etwas? Max!"