Sie lesen einen Auszug aus meiner Kurzgeschichte "Nachtrennen", enthalten in der vierten Ausgabe der Anthologiereihe Welt der Geschichten.
"Los raus", sagte ihr bärenhafter Fahrer barsch und zwängte sich aus dem Wagen, wobei er nicht vergaß, das auf die Ablage geworfene Mobiltelefon wieder einzustecken.
Andrej und die anderen kamen dem Befehl rasch nach. Der Knopf zum öffnen der Türe fühlte sich eklig klebrig an, doch er wollte sich lieber keine Gedanken machen, woran das wohl liegen mochte. Draussen empfing sie die Nacht mit ihrer unangenehm nassen Kälte. Der Regen, der die Stadt wie eine teerige Pflanze vor gut einer Stunde getränkt hatte, hatte die Luft in etwas Klammes verwandelt, das einem wie ein nach Wärme suchendes Lebewesen unter die Kleidung kroch und sich unangenehm auf die Haut legte.
Andrej zitterte sacht, als er dem Bären folgte, der sie mit weit ausholenden Schritten auf die Menschentraube zu dirigierte. Ein Blick über die Schulter verriet Andrej, dass seine Leidensgenossen es ihm gleich taten. Ihre kleine Gruppe vereinigte sich vor der in künstliches Licht getauschten Tunnelöffnung mit den schon dort Wartenden.
"Aufgepasst!", rief der Bär über die Köpfe der Läufer hinweg, die sich gegenseitig mit abschätzigen Blicken musterten. Jeder rechnete seine Chancen aus. "Ihr bildet jetzt eine lange Reihe, verstanden? Schulter an Schulter in Richtung Tunnel. Dann werden wir euch für den Lauf vorbereiten. So bald alle fertig sind, gebe ich euch ein Signal. Macht euch dann startbereit. Auf 'los' geht's dann los."
Während er redete, begann schon ein Schieben und Drängen aus dem amorphen Menschenhaufen eine wohlgeordnete Linie zu bilden. Hier und da halfen die ruppigen Hände von ein paar Veranstaltern nach, Helfershelfer, wie auch der Bär einer war. Die wahren Köpfe bekamen sie hier nicht zu sehen. Die saßen auf den Logen, die für die Zuschauer bestimmt waren. Dabei wusste Andrej natürlich nicht, ob es sich wirklich um Zuschauerränge handelte, die man an den Seiten des Parcours aufgebaut hatte. Die zahlenden Gäste dieser Spektakel konnten ebenso gut in einem klimatisierten Raum irgendwo am anderen Ende der Stadt sitzen und die Nachtrennen über eine Videoschaltung verfolgen. Aber das war sein Ausdruck für die andere Seite der Rennbahn. Für die sichere Seite: die Lodge.
Aber irgendwie hatte er immer den Eindruck gehabt, Kameras sei zu unpersönlich für Menschen, die dafür bezahlten, um andere leiden zu sehen. Eigentlich war es ja auch nicht nötig. Es hielten sich mit Sicherheit genügend hochrangige Mitglieder in der Lodge auf, die auch dafür sorgten, dass gewisse Straßen mit offiziellem Material für einige Stunden gesperrt werden konnten.
Ein Blick die Reihe aus abgerissenen Gestalten entlang, die nun vor dem gähnenden Schlund des Tunnels Aufstellung bezogen hatten, zeigte ihm, dass mehrere Helfer begonnen hatten, die Läufer "vorzubereiten", wie sich der Bär ausgedrückt hatte. Andrej konnte das Mädchen aus dem Wagen ausfindig machen. Ihre Augen waren ganz dunkel, als wären auch sie Tunnel.
Da trat auch schon einer von ihnen hinter ihn und ruckte Andrejs Kopf mit einer alles andere als sanften Bewegung gerade aus, sodass er ihm leicht die Augenbinde anlegen konnte. Der grobe Stoff, aus dem sie geschnitten worden war, kitzelte ein wenig auf seinem Gesicht. Mit einem unnötig brutalen Ruck wurde sie festgezurrt, dann war die Welt um ihn herum verschwunden.
Aber nicht ganz. Sicher, er war blind, durch den dicken Stoff drang nicht mal ein Schimmer. Doch er hatte all die vorigen Rennen auch nicht durch seinen Gesichtssinn gewonnen...sondern durch sein Gehör.
Dennoch begann sein Herz einen schnelleren Takt anzuschlagen. Die Angst kroch in ihn, verstohlen, wie sie es immer tat. Sie war die Herrin der Hintertürchen.
Was, wenn er es diesmal nicht schaffen würde? Sicher, er hatte Erfahrung, aber ein Nachtrennen blieb letzten Endes immer in Glücksspiel. Fast wie russisches Roulette. Aber selbst dabei wurde man nicht dazu gezwungen, blind zu spielen.
Er versuchte sich zu beruhigen, während seine von dem Türgriff immer noch klebrige Hand sich wie von selbst an seinem Hosenbein sauber zu reiben versuchte.
Er musste auf seine Ohren vertrauen. Das war seine besondere Fähigkeit. Seine Gabe.
Als Elfjähriger war er an einer schweren Augenentzündung erkrankt. Es geschah ganz plötzlich. Eines Abends war er vom Spielen auf den Straßen heimgekehrt und hatte über einen starken Juckreiz in den Augen geklagt. Seine Eltern hatten ihm gesagt, das komme vor, wenn man sehr müde sei und ihn gleich ins Bett gesteckt. Am nächsten Morgen hatte das Weiß seiner Augen eine ungesunde blutig-rote Farbe angenommen. Erschrocken waren sie mit ihm zum Augenarzt gegangen. Die Diagnose war eine Infektion mit Chlamydien gewesen, kleinen Bakterien, welche eine chronische Entzündung des Auges hervorriefen. Die Medikamente, die man ihm verschrieb, schienen nicht richtig anzuschlagen, weshalb vermochte keiner so recht zu sagen. Schließlich entschloss man sich, ihm gegen die Schmerzen und den bis ins unerträgliche gesteigerte Juckreiz kortisonhaltige Augentropfen zu geben. Zu der Zeit musste er täglich eine Augenbinde tragen, um die angegriffenen Organe möglichst zu schonen und vor weiteren Umwelteinflüssen zu schützen. Das Kortison hatte ihm keine Heilung bringen können, unterdrückte es doch nur die Immunreaktion seines Körpers und damit das unerträgliche Jucken. Gegen die Erreger selbst nahm er lediglich weiter die fast keine Wirkung zeigenden Medikamente. Fast ein halbes Jahr hatte er ohne sein Augenlicht auskommen müssen. Der behandelnde Arzt hatte sie darauf hingewiesen, dass es häufig bei solchen Erkrankungen zu Schäden des Gesichtssinns, im schlimmsten Fall sogar zur Erblindung kommen konnte.
Andrej hatte sich mit seiner neuen, dunklen Umgebung abzufinden gelernt. Das Gehirn eines Kindes lernt schnell und bald verstand er es, sich mit seinen anderen Sinnen zurecht zu finden. Sein Gehör allem voran. Manchmal war er seinen Eltern geradezu unheimlich geworden, weil er Dinge wusste, die sie in einem ganz anderen Teil des Hauses im Flüsterton besprochen hatten, Dingen, die ihn betrafen, und er dennoch genau wusste, was sie zu einander gesagt hatten.
Dann war die Entzündung abgeklungen, so unvermutet, wie sie gekommen war. In Andrejs Blut hatte man Antikörper gegen die Krankheit gefunden. Was die Medizin nicht geschafft hatte, war letzten Endes seinem Körper geglückt und Andrej war in die Welt des Lichtes zurückgekehrt.
Er hatte das halbe Jahr der Finsternis nicht vergessen. Ebenso schienen die Fähigkeiten, die sein junges Gehirn sich mühsam Tag für Tag antrainiert hatte, nicht vergessen zu sein.
Er hatte es bei seinem ersten Nachtrennen festgestellt.
Blind und voller Furcht war er durch den Parcours getaumelt. Es war in einem nahe der Stadt gelegenen Wald gewesen. Links und rechts von sich hatte er Menschen in vollem Lauf gegen unnachgiebige Stämme klatschen hören. Ein schwerer Laut, fast immer gefolgt von einem gellenden Schrei oder einem anderen Schmerzenslaut, so weit die Läufer nach dem Aufprall dazu noch in der Lage waren.
Dann war Andrej selbst mit der Schulter gegen einen der Stämme gerast. Es war, als wäre er von einem Zug unter voller Fahrt angefahren worden. Die schiere Wucht hatte ihn um die eigenen Achse wirbeln lassen und ihn unsanft auf den Boden geworfen. Man sollte die Kräfte nicht unterschätzen, die in dem menschlichen Körper inne wohnen.
Schwach, orientierungslos und verwirrt hatte er sich aufgerappelt. Schon beim Aufstehen hatte er seine Schulter anschwellen gespürt. Doch er widerstand der Versuchung, seine Augenbinde abzunehmen. Das gehörte zu den Regeln eines jeden Rennens: wer die Binde abnahm, der starb. Ohne recht zu wissen, wie es weitergehen sollte, hatte sein Unterbewusstsein die Führung in die Hand genommen. Rein instinktiv hatte Andrej begonnen, sich mittels der ihn umgebenden Geräuschkulisse ein Bild von seiner Umwelt zu schaffen.
Rechts von ihm war ein scharfer Plumslaut ertönt, vielleicht zwei bis drei Meter von ihm entfernt. Jemand war gegen einen der Bäume gerannt, also führte sein Weg einige Meter an dem Punkt vorbei. Andrej stieß einen keuchenden Schrei aus, als er gegen den im Weg liegenden Körper des Niedergefallenen stieß. Der Laut wurde dumpf von links reflektiert, rechts hingegen kam kein kurzes Echo. Links musste also eine Baumgruppe stehen, rechts klaffte eine Passage in dem Gehölz. Mit fieberhaftem Eifer hatte er die Lücke genommen und war weiter gehastet, sich immer mehr und mehr aufs Gehör verlassend, immer wieder kurze gellende Schreie ausstoßend, um sich anhand der schwachen Echos ein Bild der ihn umgebenden Welt zu machen.
Wie in Trance war er gelaufen, aber es hatte funktioniert. Als einziger war er im Ziel, das gegenüberliegende Ende des Waldes angekommen, sich immer der Bewegungen der Veranstalter des Rennens um sich herum bewusst, die mit scharfem Blick darauf acht gaben, dass er auch ja nicht die Hände an die mittlerweile mit Schlamm besudelte Augenbinde hob.
Sein erster Triumph. Doch das war die Vergangenheit und nun wartete im Jetzt eine Herausforderung, die es noch zu bestehen galt.
"Aufgepasst", gellte die Stimme des Bären über sie hinweg. Jetzt war es soweit. Alle waren fertig für den Lauf. "Macht euch fertig."
Andrej stellte einen Fuß vor, um besseren Gripp beim Anlaufen zu haben. Er konnte sein Blut in den Adern rauschen hören, sein wie wild schlagendes Herz, das Geräusch, dass die Luft machte, wenn sie beim Atmen an seinem Gaumen vorbei strich.
"Achtung..." Andrej spannte sich. Jede Faser seines Körpers schien zu vibrieren.
"Los!"