Sie lesen den Anfang meiner Kurzgeschichte "Narbenkind", die in der neunzehnten Ausgabe des XUN-Magazins veröffentlicht wird.
Sie war das Mädchen mit den Narben. Alle nannten sie so. Zumindest die Kinder in der Schule. Ihr Name fand kaum Gebrauch in den Mündern ihrer Altersgenossen, doch wenigstens die Lehrer sprachen sie noch mit Anna an. Wenigstens, wenn sie sich direkt an sie wandten. Anna hegte keine Zweifel darüber, dass sie sie hinter vorgehaltener Hand auch mit dem Spottnamen belegten. Sie konnte es daran sehen, wie sie über sie auf den Gängen tuschelten, wie ihre Blicke ertappt zu ihr hin huschten, wenn sie sich unverhofft näherte und wie die Gespräche leiser wurden und schließlich ganz abbrachen, wenn sie heran war.
Aber das war schon in Ordnung. Anna wusste ja, dass sie Narben hatte, meist trug sie sie sogar extra zur Schau. Selbst bei kühleren Temperaturen und frischen Winden trug sie kurzärmelige Blusen oder T-Shirts, und wenn es doch einmal zu kalt sein sollte, hatte sie wenigstens die ärmel ihres Sweaters weit nach oben geschoben, sodass sie den Blick auf die unebene Oberfläche ihrer Unterarme freigaben. Anna trug ihre Male mit einem leichten Anflug von Stolz; der Welt ein Zeichen, dass sie sie nicht unterkriegen würde. Stärke wohnte in ihr, jede Furche in ihren Armen kündete davon, je tiefer, desto lauter schrie sie es den anderen entgegen.
Leider war dieses Gefühl meist kurz wie es euphorisch war: eine helle Flamme, die in ihrer Glut schnell die Substanz verzehrte, aus der sie geboren worden war. Was blieb war nichts als eine Hand voll Asche, von der ihre Seele nicht zehren konnte. Dann kehrte die taube Starre zurück, kühlte ihr Innerstes aus. Freude, Erwartung, Spaß, Gemeinschaftlichkeit, ja selbst Liebe oder Angst waren nur noch verblassende Etiketten an fest verkorkten Gefäßen, die sich schon seit einem Jahr nicht mehr öffnen ließen.
Anna wartete auf die Schulklingel. Als endlich das Signal über das Gelände hallte, wurde es zusehends leerer in der kleinen Mädchentoilette. Lautes Reden, das Schnattern pubertierender Jugendlicher, hier und da ein aufgedrehtes Lachen; alles floss bei dem schallenden Klang der Klingel nach draußen, raus aus dem nach Desinfektionsmittel und Urin riechenden, gekachelten Raum. All diese Menschen, gerade dabei, dem Kindesalter zu entwachsen.
Geduldig wartete Anna, bis auch die letzte Seele zurück auf das offene Gelände des Hofes und dann in ihre Klasse geströmt war.
Als sie alleine war, sah sie sich in der verschlossene Kabine um, in der sie sich vor den anderen Kindern abgeschottet hatte. Die Wände waren mit Filzschreibern beschmiert und das Geschriebene so oft übermalt, dass man kaum noch etwas lesen konnte, doch dafür hatte Anna keine Blicke, vielmehr suchte sie in gleichem Maße den kleinen Raum, wie ihre Erinnerung ab.
Wo ist es nur?, fragte sie sich selbst, während sie sich auf dem dreckigen Toilettendeckel, auf dem sie saß, hin und her drehte. Sie hatte Probleme sich zu erinnern, nicht nur hierbei, bei allem. Anna wusste, es kam von den Medikamenten, die sie schlucken musste. Und sie musste wirklich, ob sie wollte oder nicht, ihre Eltern achteten darauf mit Argusaugen. Selbst ihre Einwände, die Stoffe machten sie krank, prallten an ihnen wie an den ärzten gleichermaßen ab. Sie sei schon krank sagten ihre Eltern, schlimmer könne es eh nicht mehr kommen. Manchmal musste man auch gesundes Gewebe verletzten, um krankes zu heilen, sagten ihr die ärzte. Also nahm sie die Tabletten wieder besseres Wissen.
Plötzlich blitzte etwas hinter dem Spülkasten hervor.
Da war es!
Vorsichtig tastete Anna nach dem fast gänzlich verborgenen, metallischen Gegenstand. Mit etwas Klebeband hatte sie das Ding vor einigen Wochen hier versteckt, in weiser Voraussicht, dass sie es noch brauchen würde. Anna nestelte behutsam an dem Zipfel braunen Klebebands, bis es sich endlich ablöste. Zum Vorschein kam ein breites, flaches Metallplättchen.
Es war eine von ihren Rasierklingen, ihre letzte, um genau zu sein. Ihre Eltern hatten ihr, als die ersten Schnitte und Risse auf ihren Armen erschienen, die scharfen Schneiden rasch verboten. Ihr Ladyshave war ihr abgenommen worden und das Haar auf ihren Beinen hatte zu wuchern begonnen. Auch Vaters Rasierzeug war umgehend in einen verschließbaren Schrank gewandert. Doch welche Kassiererin weigerte sich schon einem sechszehnjährigen Mädchen Rasierklingen zu verkaufen, sei es für ihren Papa oder für sich selbst? So kam Anna doch hin und wieder an welche, auch wenn ihre Eltern jeden ihrer Schritte mit an Besessenheit grenzende Akribie überwachten, gerade mal ihren Schulweg durfte sie völlig selbstständig zurücklegen und das auch mehr deshalb, weil ihre Eltern morgens beide zur Arbeit mussten.
Anna nahm die Schneide zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war eine Große, wie in den alten Filmen. Man bekam sie in manchen Läden immer noch und sie eigneten sich für ihre Sache wesentlich besser als die schmalen Klingen, die es üblicher Weise zu kaufen gab.
Behutsam setzte Anna die scharfe Klinge auf die Oberseite ihres linken Unterarms. Dann begann sie zu säbeln. Mit leichtem Druck fraß sich die Rasierklinge schnell durch die Kraterlandschaft des festspannenden Gewebes.
Dann kam das erste Blut.
Und der Schmerz.
Anna machte noch etwas weiter, schnitt tiefer in den eigenen Leib. Wie die Klinge durch das Fleisch, schnitt der Schmerz durch ihre taub gewordene Seele, ließ sie fühlen, dass sie noch lebendig war, immer noch ein Mensch, kein Automat aus Knochen, Sehnen und Muskeln. Wie in einem Rausch sank sie zurück gegen den Spülkasten in ihrem Rücken. Die Klinge entglitt den auf einmal kraftlos gewordenen Fingern, fiel mit metallischem Singen auf die fleckigen Kacheln. Ein paar rote Tropfen folgten. Anna genoss mit geschlossenen Augen die Ekstase. Wenn sie das aushalten konnte, konnte sie alles aushalten, alles, womit die Welt außerhalb dieser Zelle aufwarten konnte.
Mit Bedauern merkte sie, wie das Gefühl nach einigen Minuten verklang. Sie wollte es festhalten, an sich klammern, wie einen kostbaren Schatz (und das war es auch!), doch es entglitt ihr und einen Moment später war es gänzlich entschwunden.
Salzige Tränen gesellten sich zu dem zerlaufenden Rot auf dem silbrig scheinenden Metall. Keine Tränen über das, was sie sich selbst angetan hatte, vielmehr Tränen über den unendlichen Verlust, den sie ein weiteres Mal erlitten hatte.
Wie oft hatte sie dieses Ritual schon praktiziert? Sie wusste es nicht. Spielte es eine Rolle? Kaum. Als sie sich wieder gefangen und ihr Innerstes wieder seinen starren Zustand angenommen hatte, verstaute Anna die verschmutzte Klinge hinter dem Spülkasten. Sie würde nochmal gebraucht werden.